Ulrike kenne ich ungefähr seit der fünften Klasse und sie war – wie soll ich es sagen – schon immer ein revolutionärer und freigeistiger, progressiver Mensch. Sie lief mit „Gegen NATO“- und „Peace“-Buttons auf der Jeansjacke herum, hörte „People“ und Jethro Tull, trug keine BH, dafür aber die Haare wild, war also schon als Jugendliche immer mehr so der „Revolution now“-Typ. Sie war auf jeder Demo zu finden, solange es nur gegen die „Bullen“ und „die Regierung“ ging und sogar einmal Stadtratskandidatin der Grünen. Folgerichtig studierte sie später Sozialpädagogik und nur ein gnädiges Schicksal bewahrte die Welt davor, dass sie auch noch „auf Lehramt“ studiert. Später hatte sie dann zwei Kinder von zwei verschiedenen Männern, die Musiker und ebensolche Freigeister wie sie waren, weswegen die Männer verschwanden und die Kinder blieben. Sie hat das alles ganz gut gemeistert und verdient im öffentlichen Dienst gar nicht so schlecht. Ich mag sie. Sie ist geradeheraus, ehrlich, manchmal etwas verpeilt, aber immer freundlich. Und, aber das weiß ich erst seit ein paar Tagen, mittlerweile auch etwas wunderlich. Wenn wir uns zufällig in der Stadt begegnen, dann trinken wir im „Fairy Trade“ auch mal schön Kaffee.
Und da habe ich sie neulich auch wieder getroffen. Sie saß da, wie immer etwas zerzaust und wie immer mehr der Typ „schlampiger Frauenbefreiungslook“ denn „ältere Dame von Welt“. Neben ihr saß ein junger, mittelgroßer, dunkelhäutiger Mann mit zentralafrikanischem Teint. Um es vorsichtig auszudrücken. „Halloho“, begrüßte sie mich freudig, obwohl sie mich kennt. „Ja hallo“, grüßte ich zurück und sie rückte einladend einen der unbesetzten beiden Stühle an ihrem Tisch zu mir hin. Da ich ein paar Minuten Zeit hatte und die Sonne noch warm, aber nicht mehr heiß war, nahm ich die Einladung gerne an.
„Das da ist David“, sagte sie stolz und legte ihrem Begleiter eine Hand auf den Unterarm. „Er ist Flüchtling aus Uganda und ich habe ihn bei mir aufgenommen. Er wohnt schon vierzehn Tage bei mir. Ist besser als im Heim, gell David?“ Und bevor David etwas antworten konnte, redete Ursula weiter: „Er hat eine ziemlich schwere und traumatische Flucht hinter sich und ist noch nicht anerkannt, aber ich konnte ihn ja nicht einfach im Heim lassen. Das sind furchtbare Zustände da. Und da habe ich mir gesagt, komm Ursula, tu ein gutes Werk und nimm ihn mit nach Hause. Die Mädels sind jetzt eh aus dem Haus und jetzt habe ich ja Platz.“ Ich war doch etwas erstaunt. „Du hast ihn einfach so mitgenommen? Das ist ziemlich nobel von Dir“, stellte ich fest. Dass ich das auch ziemlich leichtsinnig fand, verschwieg ich. Und sie hatte ja offensichtlich Spaß. David hob an, etwas zu sagen, aber Ursula gab ihm schnell einen Schmatz auf die schwarze Wange. „Er spricht noch nicht so gut Deutsch, eigentlich gar nicht. Englisch geht gerade so, aber er ist auf seiner Flucht ja auch mehrmals dem Tod von der Schippe gesprungen, gell David?“ David öffnete wieder den Mund, aber wieder war Ursula schneller: „Er hat natürlich noch seine Sippe und seine Familie in Uganda, aber die holen wir nach, sobald er hier seine Anerkennung hat. Das ist gar nicht so einfach, weil er ja nachweisen muss, dass er verfolgt wurde und außerdem hat er ja auch keine berufliche Qualifikation in unserem Sinne, da gibt es ja nichts in Uganda und außerdem…“
Und außerdem schaltete ich ob des Redeschwalls ab und rührte in meinem mittlerweile eingetroffenen Kaffee und beobachtete die Linien und Kreise, die die Milch bildete. Ich stellte mir David im Lendenschurz in Uganda vor, während Ursula die Hintergrundbeschallung lieferte und dann sah ich in Davids Augen.
Augen, in denen sich Angst und Resignation zu spiegeln schienen. Er musste ein wirklich hartes Schicksal hinter sich haben. „Du, ich muss mich kurz frisch machen“, tauchte Ursula aus dem akustischen Hintergrund wieder auf, „ich bin gleich wieder da. Wenn Du mit David redest, rede langsam auf Englisch, er versteht Dich ganz gut“. Und dann stand sie auf und ging. Und ich sah David an und sagte langsam und betont: „Nice to meet you. Do you like Germany?“
David sah zurück und lächelte. „Ja, mir gefällt es hier sehr gut, schöner als in Offenbach“, sagte er in akzentfreiem Deutsch. Soweit das einem Hessen möglich ist. Ich war verblüfft. „Hä? Ich dachte, Du kommst aus Uganda!“ David grinste. „Offiziell tue ich das“, sagte er leise, „stimmt aber nicht!“ „Ja, aber was, aber wie…“, ich war total konsterniert. „Ach“, erklärte David, „wir haben uns vor zwei Wochen hier kennengelernt, und da mich meine Freundin ´rausgeschmissen hat, habe ich einen auf „bedürftiger Flüchtling“ gemacht. Seitdem wohne ich bei Ihr. Ihr gefällt es und mir derzeit auch.“ Ich spürte eine Mischung aus Zorn, Verachtung und Bewunderung in mir aufsteigen. „Findest Du das nicht ziemlich kriminell? Jemandem etwas vorzulügen, was gar nicht stimmt?“, fragte ich ärgerlich.
David grinste wie ein Kühlergrill. „Nein, ich habe ja schon versucht, Ihr das beizubringen, dass ich mir einen Spaß erlaubt habe, aber sie will nicht hören…“, gab er zurück. „Wie? Sie will nicht hören?“ „Ja, ich habe Ihr gesagt, dass alles nur ein Joke ist, aber irgendwie scheint ihr der Gedanke zu gefallen, einem Flüchtling direkt zu helfen und seitdem sie weiß, dass ich gar kein Ugander bin, findet sie das sogar noch besser. Zuhause (genau so sagte er es) reden wir ganz normal Deutsch miteinander und in der Öffentlichkeit bin ich eben ihr Flüchtl… very very well…“, wechselte er ansatzlos die Sprache, weil Ursula wiederkam.
Sie lächelte. David lächelte. Ich lächelte. „Du weißt, dass er gar kein Ugander ist?“, fragte ich sie. Sie zog ärgerlich die Augenbrauen zusammen: „David, Du Plaudertasche. Wir hatten das ausgemacht, was wir in der Öffentlichkeit sagen!“ David strahlte sie entwaffnend an und Ursula musste lachen. „Für mich ist er Ugander“, sagte sie zärtlich und streichelte Davids linke Hand, „und nur das zählt.“ „Für wen?“, wollte ich wissen. „Für mich und alle, die gerne helfen. So funktioniert das nun einmal“, führte sie aus, „es geht schließlich darum, mit gutem Beispiel voranzugehen und zu demonstrieren: Ja, auch Du kannst direkt etwas tun!“ „Das ist Betrug“, gab ich entsetzt zurück, „Du hilfst doch gar nicht, Du simulierst nur Hilfe!“ Ulrike sah mich mit dem Blick einer Lehrerin auf das dümmste Kind der Klasse an: „Wahrheit ist, was wir glauben wollen“, sagte sie. „Der Zweck heiligt die Mittel“, sagte sie auch. Dann standen sie auf und gingen. Ich mutmaße, um einen Asylantrag für David zu stellen. Einfach so. Wegen des guten Beispiels. Leider vergaßen sie, die Rechnung zu bezahlen. Das habe ich dann übernommen. Der Wirt kann ja nichts dazu.